Was ist Wissenschaft?
Annäherungen an den Begriff „Wissenschaft“
Die Zahl der Begriffsdefinition von Wissenschaft ist groß, hier finden Sie eine – nicht-repräsentative, subjektive – Auswahl:
„Wissenschaft: geordnetes, folgerichtig aufgebautes, zusammenhängendes Gebiet von Erkenntnissen„ (Wahrig-Burfeind 2010:1666).
Wissenschaft: „Objective, von dem Inbegriffe in einander gegründeter allgemeiner Wahrheiten, wodurch sich die Wissenschaft von der Kunst unterscheidet, indem diese bloß Ausübungssätze, jene aber in einander gegründete allgemeine Wahrheiten enthält“. (Adelung 1970:1582)
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wissenschaftlich: „nach Art einer Wissenschaft, d. i. in einander gegründeter allgemeiner Wahrheiten. Die wissenschaftliche Erkenntniß, welche die einzelnen Dinge auf allgemeine Begriffe zurück führet, und ihre Gründe und Verbindungen einsiehet; zum Unterschiede von der bloß historischen, welche nur weiß, daß die einzelnen Dinge da sind, und allenfalls, wie sie da sind.“
„Bezeichnung einer gelehrten disciplin“ (Grimm 1971:781).
„Methodik, Vorurteilsfreiheit, Wertfreiheit, Verifizierbarkeit und Verifikation jeder Aussage, Möglichkeit der Kritik sowie Intersubjektivität„ (
www.wissen.de [Letzter Aufruf: 2015-09-04]).
Einen guten Überblick über verschiedene Wissenschaftstheorien liefert Chalmers (2007).
Wissenschaft versus Wissenschaften
Abgesehen davon, dass es ganz offensichtlich keine einheitliche, allgemein gültige Definition von Wissenschaft gibt, stellt sich anhand der oben aufgeführten Aussagen zum Thema auch die Frage, ob es die Wissenschaft gibt. Denn die Aussagen beziehen sich auf sehr unterschiedliche Geltungsbereiche: auf einzelne (Fach-) Gebiete bzw. Disziplinen oder auf das übergeordnete, allgemeine „Gebiet von Erkenntnissen“. Möglicherweise gibt es ja auch zahlreiche, unterschiedliche Wissenschaften, die nebeneinander stehen. Um dies wenigstens näherungsweise zu klären, empfiehlt sich ein Blick auf typische Merkmale wissenschaftlichen Arbeitens:
Merkmale wissenschaftlichen Arbeitens (alphabetische Sortierung)
Falsifizierbarkeit: Hypothesen müssen grundsätzlich so formuliert werden, dass sie überprüfbar sind und gegebenenfalls widerlegt werden können. Nicht falsifizierbar sind zum Beispiel normative Sätze („Du sollst nicht töten.“) oder tautologische Sätze, die alle denkbaren Möglichkeiten in sich vereinen („Sprecher des Deutschen ersetzen Genitiv-Objekte durch Phrasen im Dativ, oder sie tun es nicht.“). Falsifizierbar sind hingegen etwa Aussagen, die durch Beobachtungen geprüft werden können („Alle Sprecher des Deutschen ersetzen Genitiv-Objekte durch Phrasen im Dativ.“).
Formulierung eines Erkenntnisinteresses: Grundsätzlich müssen wissenschaftliche Arbeiten das Ziel verfolgen, (wissenschaftliche) Erkenntnisse zu generieren. Dazu gehört neben der Formulierung von Hypothesen bzw. Leitfragen auch die Genauigkeit bei der Bearbeitung, das kritisches Hinterfragen bereits bestehender Erkenntnisse und eine gesunde Skepsis bei der Auseinandersetzung mit Ergebnissen anderer. Damit verbunden ist auf jeden Fall auch die Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstands zum Untersuchungsgegenstand.
Intersubjektivität:
2) Neutralität und Sachlichkeit beim wissenschaftlichen Arbeiten; Einbeziehung verschiedener Positionen zum Forschungsgegenstand – die Erkenntnisse müssen unabhängig von persönlicher Meinung und eigenem Standpunkt auch für andere nachvollziehbar sein. Hier wird gelegentlich auch von
Objektivität gesprochen; vgl. etwa die Definition von Adelung (1970) oben. Da Wissenschaft allerdings immer von Individuen betrieben wird, ist dieser Begriff unseres Erachtens unangemessen – es werden stets auch subjektive Perspektiven ins wissenschaftliche Arbeiten eingebracht (etwa bereits durch die Auswahl eines Forschungsthemas), insofern ist Objektivität nicht nur nicht gegeben, sondern schlicht unmöglich. Zum wissenschaftlichen Arbeiten gehört aber unbedingt die Bewusstmachung des eigenen Standpunktes und dessen Reflexion – nur so können Sie tatsächlich neutral und sachlich arbeiten. – Ein wesentlicher Aspekt dieses Merkmals ist ein implizites Publikationsgebot: Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen in geeigneter Form veröffentlicht werden, damit sie einer intersubjektiven Prüfung unterzogen werden können.
Reliabilität: Die Zuverlässigkeit einer wissenschaftlichen Arbeit misst sich v.a. an ihrer formale Genauigkeit (durch Ausschließen von Stör- und Zufallsfaktoren in Messungen); hier ist unseres Erachtens aber auch die methodische Transparenz zu verorten. Dazu gehört vor allem die möglichst exakte Beschreibung des methodischen Vorgehens, die Reflexion der verwendeten Methoden, die Dokumentation und Offenlegung aller Quellen und Daten (Texte, Befragungen, Experimente/Studien, Simulationen, Beobachtungen usw.) – diese Quellen und Daten müssen auffindbar sein und damit auch grundsätzlich einer Überprüfung unterzogen werden können.
Transparenz und Überprüfbarkeit: Neben den bereits erwähnten Aspekten der methodischen Transparenz und der Dokumentation von Quellen und Daten gehört dazu auch die Strukturiertheit im Vorgehen: Wissenschaftliches Arbeiten und die Darstellung von Erkenntnissen bzw. Erkenntnisprozessen folgen einer logischen Ordnung, Argumentationen werden sauber dargestellt. Außerdem folgen wissenschaftliche Darstellungen bestimmten Konventionen (Regeln und Normen) – es geht hier etwa um die Einhaltung von Richtlinien, Formalia und die angemessene Verwendung von Fachsprache (Terminologie, graphischen Darstellungssysteme etwa in der Mathematik usw.).
Validität: Die mit einer Untersuchung/Studie erzielten Aussagen müssen belastbar sein. Das kann zum Beispiel die Zahl der Texte in einem Korpus und die Reichweite der damit zu treffenden Aussagen betreffen: Wenn Sie anhand eines Korpus von fünf regionalen Kurzgeschichten auf eine allgemeine Tendenz zur Verwendung von schriftsprachlichen Regionalismen in allen regionalen Kurzgeschichten schließen, ist das eine nicht besonders gut begründete Annahme – die Validität der Aussage könnte mit Recht angezweifelt werden. Mit der verwendeten Methode muss also das untersucht/gemessen werden, was auch untersucht werden soll – die Untersuchung eines repräsentativen, gut strukturierten Korpus kann durchaus zu allgemeinen Aussagen zur untersuchten Textsorte führen.
Bei Untersuchungen muss durch die Wahl der angemessenen Methode außerdem sichergestellt werden, dass sich Ergebnisse auf den Untersuchungsgegenstand beziehen. Störfaktoren müssen identifiziert und eliminiert bzw. – falls das nicht möglich ist – bei der Bewertung der Ergebnisse berücksichtigt werden. Das betrifft zum Beispiel das sog. Beobachter-Paradoxon, das auf Labov (1971:147ff.) zurückgeht, der es für die Untersuchung von gesprochener Sprache formuliert, das aber in der Germanistik für alle empirischen Studien eine Rolle spielt, in denen Interaktion bzw. Kommunikation durch eine dritte Person beobachtet wird.
Es gibt also keine einheitliche Definition des Wissenschaftsbegriffs, aber es gibt eine Reihe von Merkmalen, die beschreiben, was beim wissenschaftlichen Arbeiten gewährleistet sein muss. Betrachtet man diese Merkmale, dann wird deutlich, dass alle zu einem übergeordneten, eher abstrakten Wissenschaftsbegriff („die Wissenschaft“ als übergeordnete, nicht-konkrektisierte Entität) gehören. Insofern gelten diese Merkmale allesamt auch für die Germanistik – mit den fachspezifischen Konventionen setzen wir uns im Tutorium auseinander.
Einzelne Wissenschaften als Konkretisierungen dieses abstrakten Begriffs tauchen hier lediglich in den fachspezifischen Konventionen auf, also bestimmten Richtlinien, Formalia, Terminologien und ggf. graphischen Darstellungssystemen. Teilfachspezifische Informationen – also für die Germanistische Linguistik, die Germanistische Mediävistik und die Neuere deutsche Literaturwissenschaft – erhalten Sie auch in den entsprechenden Lehrveranstaltungen; üblicherweise sind die Proseminare der Ort, an dem Sie sich damit intensiver auseinandersetzen.
Konsequenzen für wissenschaftliche(s) Arbeiten in der Germanistik
Überträgt man die o. g. Merkmale nun auf die Germanistik, ergeben sich folgende Anforderungen an wissenschaftliche(s) Arbeiten im Fach:
Formulierung des Erkenntnisinteresses: Warum ist der Forschungsgegenstand interessant? Was ist die eigene Motivation? Welcher Erkenntnisgewinn ist beabsichtigt?
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systematisches Vorgehen, nachvollziehbare, logische Argumentationsstruktur und Offenlegung von Methoden: Wie und womit wird gearbeitet (theoretisch/empirisch, kontrastiv, analytisch …)?
Begründung von Entscheidungen: Warum ist Methode A anderen Methoden vorzuziehen? Warum werden bestimmte Aspekte des Themas genauer untersucht und andere Punkte ausgelassen?
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Literatur
Literaturverzeichnis
Adelung, Johann Christoph (Hrsg.) (1970): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. 2. vermehrte und verbesserte Ausg. Leipzig, Hildesheim, New York
online verfügbar:
http://www.woerterbuchnetz.de. [Stand: 20.04.2015]
Chalmers, Alan F. (2007): Wege der Wissenschaft. Einführung in die Wissenschaftstheorie. Herausgegeben und übersetzt von Niels Bergmann und Christine Altstötter-Gleich. Sechste, verbesserte Auflage. Heidelberg
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Labov, William (1971): Das Studium der Sprache im sozialen Kontext. In: Klein, Wolfgang/Dieter Wunderlich (1971) (Hrsg.): Aspekte der Soziolinguistik. Unter Mitarbeit von Norbert Dittmar. S. 123-206
Wahrig-Burfeind, Renate (Hrsg.) (2010): Wahrig. Deutsches Wörterbuch. 8. Aufl. Gütersloh, München
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